Fünfundzwanzig

Viel zu schnell hetzten sie über die Spielstraße der Siedlung. Vorneweg Manfred Hanraths, der in bester Stimmung seine wöchentliche Radtour anführte.

Noch.

Manfred fragte sich bisweilen, warum ausgerechnet er sich das jeden Mittwoch antat. Immerhin war er mit 49 durchweg einer der ältesten Teilnehmer. Seine offiziellen 103 Kilo sah man ihm zwar auf den ersten Blick nicht an, aber sein Übergewicht machte ihm trotzdem keine Freude. Vor allem brachte er meist echte 108 Kilogramm auf die Waage und mit denen fuhr er ohne große Probleme vorneweg. Aber die wenigen Hügel am Niederrhein und so mancher lange Brückenaufstieg ließen ihn ganz schön keuchen und jedes mal nahm er sich aufs Neue vor, bald mindestens zehn Kilo abzunehmen.

Heute waren sie zu acht unterwegs. Vier Stammgäste, zwei gelegentliche Mitfahrer und der achte, Erwin, Eugen oder Egon war zum ersten Mal dabei. Manfred verfluchte sein schlechtes Namensgedächtnis und nahm sich vor, beim ersten Zwischenstopp in die Teilnehmerliste zu schauen, damit er den Neuen bei nächster Gelegenheit mit seinem richtigen Vornamen ansprechen konnte.

Der Neue redete einfach pausenlos. Seit Minuten schon war Manfred das Opfer und erfuhr gerade, wie viel schöner es doch wäre, in die andere Richtung zu fahren. »Ich kenn’ hier jeden Regenwurm mit Vornamen. Da drüben führt eine wunderschöne Strecke durch den Wald. Sollen wir nicht da mal lang?«

Manfred dachte sich seinen Teil. »Der Kerl nervt langsam. Der ist ja nicht zu stoppen in seinem Redefluss.«

Manfred erhöhte sein Tempo und setzte sich wieder allein an die Spitze der Gruppe. Seine Touren plante er in einem Internetportal, übertrug die ausgearbeitete Route auf sein Smartphone und ließ sich unterwegs von einer App führen. Das klappte meistens hervorragend, nur manchmal, wenn er gerade in Gedanken woanders war, verpasste er einen Abzweig. Das merkten seine Mitfahrer selten, denn mit einem Blick auf sein Handy am Lenker konnte er sie unauffällig wieder auf die vorgesehene Strecke führen.

»Mist!« Manfred ärgerte sich. Jetzt war genau das passiert. Eigentlich hätte er rechts abbiegen müssen, aber er hatte nicht aufgepasst und war geradeaus weitergefahren. Die Sieben waren ihm blind gefolgt und hintereinander her waren sie in hoher Geschwindigkeit von fast 30 Stundenkilometer in die Sackgasse mitten in der Tannengrund-Siedlung gerauscht.

»Weeenden!« Manfred hatte keine Chance seinen Fehler unbemerkt zu korrigieren, bremste abrupt ab und drehte sein Rad danach um 180 Grad.

Ihr neuer Mitfahrer meldete sich wieder zu Wort. »Ja, die Tourennavigation üben wir noch mal.«

Die anderen lachten und Manfred stimmte notgedrungen ein. Sie machten kehrt und plötzlich fuhr der Neue vorneweg und übernahm ungefragt die Führung.

Manfred dachte sich seinen Teil. »Den lass ich jetzt mal, der wird uns schon nicht auf die A36 führen.«

Nicht auf die nahe Autobahn, aber in den Heyderwald lotste der Neue jetzt die Gruppe und genau diesen Weg hätte auch Manfred eingeschlagen. Es hatte seit Tagen nicht einen Tropfen geregnet und der schmale Weg durch den herbstlichen Mischwald war staubtrocken.

Manfred sorgte sich um ihre Sicherheit. Sie waren trotz der Enge auf dem abschüssigen Pfad mit fast 25 Stundenkilometer unterwegs. Darum wies Manfred seine Mitfahrer lauthals darauf hin. »Mehr Abstand!«

Wie gewohnt hatte er vor dem Tourstart die wichtigsten Regeln vorgetragen. »Jeder fährt auf eigenes Risiko. An Kreuzungen niemals „frei“ rufen. In Kurven nie nebeneinander fahren.«

Eigentlich nervten ihn diese Regularien, aber ein Minimum musste sein, vor allem wenn Neue erstmals mitfuhren. Am wichtigsten war die Kurvenregel und die betonte Manfred immer wieder. »Wenn einer mal alleine abschmiert, ist das blöd und der hat dann vielleicht ein paar Schrammen. Wenn ihr aber beim Sturz in einer Kurve jemanden mitreißt, dann kann das richtig richtig weh tun.«

Der Pfad wurde immer schmaler, der Wald immer dichter und dunkler. Ihr neuer Führungsfahrer, gerade wohl in seinem Element, war vier, fünf Meter vor Manfred unterwegs.

»Jetzt übertreibt er es aber. Da kommt gleich das Loch zwischen den beiden Eichen, wenn der weiter so schnell fährt, kann das eng werden.«

Manfreds Bedenken verstärkten sich, er hob kurz die rechte Hand zum Zeichen für die nachfolgenden Fahrer und bremste ein wenig ab. Die kannten das und achteten darauf. Viele laute Kommandos wie „Poller“, „Hund“ oder „Gegen“, letzteres bedeutete „da kommt uns jemand entgegen“, vermied Manfred möglichst. Die Schreierei ging irgendwann eh allen auf die Nerven.

Ihr Vordermann fuhr in unvermindertem Tempo auf die beiden Eichen zu. Plötzlich rutschte sein Mountainbike unter ihm weg und krachte in der Rechtskurve mit erheblicher Wucht in einen Holunderbusch. Der Fahrer selbst hing aufrecht wie fest getackert zwischen den dicken Eichenstämmen.

»Achtung!« Manfred schrie laut auf, versuchte eine Vollbremsung, rutschte aber auch weg, halblinks in die Büsche. Ein paar Holunderbeeren regneten auf ihn herab. Hinter ihm landeten die anderen, jeder für sich, einigermaßen glücklich auf dem Boden. Nur Thorsten erwischte einen spitzen Ast, der sich in seine rechte Wade bohrte. Er versuchte aufzustehen, das klappte erst beim dritten Versuch und er lehnte sich schmerzverzerrt an den nächsten Baum. Der Ast lag nun neben ihm, aber ein abgebrochenes Stück ragte aus seiner Wade. Als er das begriffen hatte, ließ er sich vorsichtig fallen und hockte am Boden wie ein Häufchen Elend.

Werner und Daniel stürzten nach vorne.

»Erich, was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht?« Daniel war als erster bei dem Verunglückten, Werner direkt hinter ihm. Dann stoppten beide, schauten sich entsetzt an. Sie konnten das Bild, das sich ihnen bot, kaum fassen.

»Der blutet ja wie ein Schwein, lass mich mal ran.« Werner schob Daniel zur Seite.

»Erich heißt der also.« Manfred hatte gehört, was Daniel rief. Ungläubig versuchte er zu verstehen, was passiert war. Ihr Mitfahrer Erich stand nicht auf seinen Beinen, vielmehr schien es, als klebe er an der rechten Eiche. Sein Kopf hing leicht schräg auf seinem Hals. Blut strömte, nein es spritzte wie mit einer kleinen Wasserpistole geschossen, aus einer Ader.

»Erich! Lass dir helfen!« Werner packte ihn vorsichtig an den Schultern, aber die kleine Bewegung hatte genügt und der scheinbar schwebende Erich brach mit einem gurgelnden Stöhnen unmittelbar vor ihnen zusammen.

»Wir brauchen Hilfe, ich hab kein Handy.« Werner stupste Daniel an. »Ruf die 112. Jetzt!«

Erich lag nun auf dem Rücken, Werner hockte vor ihm und drückte vorsichtig mit seinem Daumen die Wunde zu.

Manfred wusste, Werner war Rettungssanitäter. »Was für ein Glück«, dachte er und sah entsetzt, dass sich auf dem sandigen Boden mehr und mehr rote Flecken bildeten. Ein tiefer Schnitt lag wie eine rubinrote Kette knapp unter dem Kehlkopf um Erichs Hals. Werner schaffte es mühsam den Blutstrom etwas zu lindern. »Ich kann hier am Hals nicht abbinden, wir brauchen meine Kollegen. Und das ganz schnell!«

Daniel hatte mit zittrigen Händen die Verbindung zur Notrufzentrale geschafft und hektisch berichtet, was passiert war. »Wo sind wir? Die wollen wissen wo wir sind.«

Werner meldete sich ruhig aber bestimmt. »Im Wald vor dem Heyder See. Die sehen ja deine Handynummer und können dich per Messenger anstoßen. Dann kannst du unseren Standort senden. Sag denen, dass es auf jede Minute ankommt. Hier besteht Lebensgefahr.«

Daniel führte Werners Anweisung aus, erhielt unmittelbar danach die erbetene Nachricht und sandte ihren Standort an den Mitarbeiter der Notfallzentrale.

Manfred wurde schwarz vor Augen. Er hockte sich hin und legte seinen Kopf nach vorne zwischen die Beine. Das half und langsam konnte er wieder klar denken. Er nahm sein Handy vom Lenker und prüfte ebenfalls ihren Standort. Der blaue Punkt in der Karte zeigte ihm, wo sie gerade waren. Rechts schlängelte sich der Heydbach durchs Gebüsch, wenige 100 Meter nördlich machte er ein großes Anwesen aus, dahinter eine Landstraße, die L197. Er zoomte die Ansicht auf das Anwesen und erkannte eine Beschriftung. Aber die Schrift war zu klein. Manfred wandte sich an Friedel und hielt ihm sein Handy vor die Augen. »Kannst du das lesen? Schau mal!«

Friedel war viel jünger, brauchte noch keine Brille und sah wohin Manfred zeigte. »L197«

»Nein, das Gebäude hier.«

»Ach so. Da steht Kinderheim Sankt Moritz.«

Manfred wählte auch die 112.